In den letzen Jahren scheinen sich die Veröffentlichungen von Autobio-grafien in einem großen Umfang gesteigert zu haben. Besonders die Generation meiner Eltern hat dabei oft zum ersten Mal über die Zeit ihrer Jugend gesprochen und damit einige lange verdrängte Tabuthemen in den Fokus der breiten Öffentlichkeit gestellt. Bei den Autorinnen und Autoren handelt es sich in der Regel um Personen des öffentlichen Lebens, aus den Bereichen Politik, Journalismus, Wirtschaft, Kunst, Sport, Kirchen, u.v.m. Sie haben alle eins gemeinsam: Auf Grund ihrer Popularität gibt es mit Sicherheit, wie auch die Bestsellerlisten deutlich bestätigen, ein großes Interesse der breiten Öffentlichkeit, etwas mehr über diese Menschen und ihre Lebensumstände zu erfahren. In meinem Fall besteht dieses Bedürfnis nicht, ich habe vornehmlich für mich persönlich gegen das eigene Vergessen angeschrieben. Im Mittelpunkt der folgenden Seiten stehen die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, die Musik, die mich in dieser Zeit immer begleitet und beeinflusst hat und die unter den Jugendlichen meiner Generation einen ganz anderen Stellenwert als bei unseren Vorgängern gehabt haben dürfte.
Einer der wichtigsten Faktoren zur Bildung einer eigenen Jugendkultur und ihr schlagkräftigstes Sprachrohr war für viele junge Menschen der 60er Jahre die Musik. Seitdem der Rock ’n’ Roll aus Amerika große Teile nicht nur der westlichen Welt erobert hatte, war Musik auch nicht mehr nur eine regional begrenzte Kunstform, sondern eine kulturelle Botschaft, die sich weltweit verbreitete. Eine große Rolle spielten dabei die neuen Medien: Radio und Fernsehen gab es mittlerweile in fast allen Haushalten. Obwohl die ersten Goldgräber schon ahnten, dass sich hier hervorragende Verdienstmöglichkeiten auftaten, das Business war neu und hatte die konservativen Investoren noch lange nicht erreicht, schon gar nicht überzeugt. Das Ganze wurde von der Jugend getragen, hatte einen rebellischen, revolutionären Charakter in seiner Auflehnung gegen das Establishment und war zu diesem Zeitpunkt noch weitestgehend echt und authentisch. Ein gezündetes Streichholz hatte einen Flächenbrand entfacht, dessen Herde in England und den USA lagen, jeder darauf angelegt, heller und heißer zu brennen als der andere. Die Lieder der ersten Brandstifter in Person von Elvis, den Beatles, Rolling Stones und Byrds begründeten eine weltumspannende Beatgeneration. Die Texte waren in der Regel recht dürftig, aber die Melodien bestachen durch den Rhythmus und ihre ungewohnten Harmonien. Hinzu kam die noch nicht ausgereifte Technik, die vielen der Schallplatten aus dieser Zeit einen bodenständigen, unprofessionellen, aber ehrlichen Charakter verlieh, der mittlerweile leider den aalglatten, sehr aufwendigen Produktionen der Neuzeit zu oft abhanden gekommen ist. Obwohl die Wurzeln der »Englischen Invasion« hauptsächlich im Rhythm & Blues lagen, die amerikanische Antwort noch einen Schuss Country und Bluegrass hinzumixte, bot diese Basis dennoch genug experimentellen Spielraum, der es den Gruppen möglich machte, eine eigene musikalische Identität aufzubauen.
So entstanden fast täglich neue kleine Pop- oder Beatkunstwerke, bei deren Quantität die Qualität nicht zu kurz kam. Es war die Zeit der musikalischen Visionäre, deren Ausdrucksformen von der Jugend aufgenommen und eingesogen wurden. Neben diesen, wie Pilze aus dem Boden schießenden Beat- Rock- und Popgruppen wurde aber auch eine Plattform wiederentdeckt: die des einfach vorgetragenen Liedes, dessen textliche Ansprüche weit über den pubertären Rahmen von »She loves You« und »I want to hold your Hand« hinausgingen. Die Wiedergeburt der Barden, der fahrenden Sängerinnen und Sänger, Künstler aus dem Volk und für das Volk, die sich mit aktuellen Themen gezielt oder auch indirekt politisch betätigten. Wieder lag der Ausgangspunkt in den USA in einer Bewegung, die sehr schnell unter dem Namen »Folkrevival« bekannt wurde. In den 40er Jahren, speziell nach dem Krieg kamen durch die Almanac Singers um Pete Seeger, Leadbelly und Woody Guthrie sozialkritische Aspekte in die amerikanische Musik, weit entfernt von der Unterhaltungsmusik und in Aussage und Intensität vergleichbar mit den Volksliedern vergangener Jahrhunderte. Dabei wurden viele alte Melodien in diesem Zusammenhang oft mit veränderten Texten wiederbelebt. Mit Joan Baez, Bob Dylan, Phil Ochs, Donovan, Tim Hardin und vielen anderen wurde das Repertoire der Volkslieder um neue Werke bereichert, die heute ihren anerkannten, festen Platz in dieser Musik eingenommen haben. Natürlich wurde diese Bewegung von der – damals allerdings noch nicht so bedeutsamen – Plattenindustrie beobachtet, man ließ die Künstler in scheinbarer Selbstbestimmung gewähren, bis sie für den Markt interessant wurden. Dann wurden sie zurückgepfiffen und für die eigenen Ziele angepasst, bis nicht viel mehr von der ursprünglichen Szene übrig blieb als der oberflächliche Nimbus der Jugend und ein neuer konsumorientierter Lebensstil. Wenn die Künstler nicht in die Vorgaben der Industrie einwilligten, waren sie sehr schnell weg vom Fenster oder hatten einen sehr steinigen Weg vor sich. Bei vielen von uns war spätestens nach der Schule oder dem Studium Schluss mit unseren Idealen, mit der Musik; die meisten ergriffen »ordentliche« Berufe, gründeten Familien und versanken im Mainstream. Trotzdem tauchen sie immer wieder mal auf, bei kleinen Konzerten und Festivals; es sind mehr, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Literatur ist über diese Zeit genug erschienen und in den Archiven lagern auch massenweise Ton- und Filmmaterial. Ich möchte nun auch nicht zum wiederholten Mal erzählen oder schreiben, wann Mick zum ersten Mal Keith in Dartford getroffen hat, warum Pete durch Ringo ersetzt wurde; das alles gehört zur großen Beat- und Popgeschichte.
Obwohl diese Geschichte nie in Berlin (West) geschrieben wurde, gab es aber auch hier, wie an vielen Orten der Welt, regionale Szenen, die durch die großen Ereignisse beeinflusst wurden und somit auch einen kleinen Teil des Geschehens ausmachten. In diesem Umfeld bin ich aufgewachsen und vieles von dem, was damals unser Lebensinhalt gewesen war, ist in unserer Erinnerung verblasst, im günstigsten Fall als Randnotiz festgehalten. Dies ist der Grund, warum ich mich nach jahrelangen, immer wieder verschobenen Ansätzen aufgerafft habe, einige Namen, Orte und Begebenheiten in Erinnerung zu bringen. Selbst dabei wird nur ein kleiner subjektiver Teil der populären Musikkultur in meiner Geburtsstadt berücksichtigt und einiges dürfte bereits für immer in Vergessenheit geraten sein. Ich habe bewusst auf Interviews mit den hier genannten Künstlerinnen und Künstlern verzichtet, weil sich selbst in diesem Kreis viele Aussagen widersprechen und das Erinnerungsvermögen ein Opfer der Zeit geworden ist. Gedanken, die sich im Vorfeld mit einem in Stichworten gegliederten Nachschlagewerk beschäftigten, habe ich schnell beiseite geschoben. Ein Lexikon sollte schon aus recherchierten Fakten bestehen und inhaltlich das Thema im Wesentlichen abdecken. Woher sollen diese aber kommen? Die Durchsicht lokaler Presseerzeugnisse dürfte im Zusammenhang mit diesem Thema nicht sehr aufschlussreich sein und das wenige Material stammt auch von Dritten. So sind sehr subjektive Erinnerungen aus der Sicht eines Außenstehenden entstanden, der damals viel erlebt, gesehen und gehört hat; aber zum besseren Verständnis sei gesagt, dass hier die Sichtweise von jemandem vorliegt, der nie zum engen Kreis der Künstler gehörte. Es sind kleine Anekdoten aus der eigenen Erinnerung; Kommentare zu den künstlerischen Darbietungen sollen nicht als Kritik, sondern als Wiedergabe persönlicher Empfindungen verstanden werden. Besonders schwer war es, die Ereignisse in eine einigermaßen zeitlich korrekte Abfolge zu bringen. Dabei waren mir dann doch diverse Literatur, noch existierende Konzertprogramme, Handzettel, Angaben auf Plattenhüllen und letztendlich auch das Internet behilflich. Überrascht, ja auch etwas enttäuscht war ich allerdings über die Ausbeute in diesem neuen »Zwerg Allwissend.« Zu vielen Suchbegriffen gab es leider keine Antworten, was mich allerdings nach jahrelangem Zögern zusätzlich beflügelte, mich noch intensiver an die Arbeit zu machen. Letztendlich entstanden Fragmente, zusammengesetzte Mosaike, die mehr Lücken enthalten als passende Steine. Vielleicht kann dieses Puzzle, so hoffe ich, dem eigenen Erinnerungsvermögen der Leser als Anreiz dienen und etwas von der wunderbaren Atmosphäre und von den Erinnerungen an diese Zeit zurückbringen. Auf den Innenseiten des Einbandes finden sich weitere Namen, die auf einem Abschiedsplakat genannt wurden, das Suse Lämmerhirt Ende 1992 in einen Schaukasten des GO-IN’s unter dem Motto »Remember« gehängt hatte.
Neben dem, was ich tatsächlich erlebt habe, hatten die vielen Informationen aus Büchern, Filmen und natürlich in erster Linie die Tonträger einen großen Einfluss auf das, was in diesem Buch zusammengefasst wurde. Das Wissen und die Meinung anderer, haben letztendlich zur Bildung einer eigenen Meinung geführt. Wenn die Quellen nicht separat genannt sind, haben alle im Anhang genannten Druckerzeugnisse und Tonträger auch in irgendeiner Weise dazu beigetragen. Im Zentrum der vielleicht wichtigsten Zeitabschnitte liegen die Jugendclubs und später das GO-IN und das FOLKPUB, die mit dem STEVE-CLUB das sogenannte magische Dreieck der musikalischen Kleinkunst in der alten Westberliner City bildeten. Diese Bühnen waren für die Musiker sicherlich der Dreh- und Angelpunkt ihrer musikalischen Welt; für viele von uns war es ein wichtiger Teil unseres Lebens, auch wenn diese Erkenntnis erst richtig in das Bewusstsein eindrang, nachdem die Szene nicht mehr existierte und die Läden längst geschlossen hatten. Neben der Musik spielt auch immer wieder die Mauerstadt Berlin eine Rolle, die in ihrer negativen wie positiven Lage ein durch den »Kalten Krieg« der Militärblöcke erzwungenes Experiment darstellte, dessen Einzigartigkeit erst spätere Generationen genauer analysieren und beschreiben werden, auch wenn diesen dann die Zeitzeugen abhanden gekommen sind.
Werdieses Buch ließt, wird bei mir eine gewisse Distanz zur Wissenschaft, zu akademischen Institutionen und Titeln feststellen können. Für mich war ein Doktor sehr lange, ein Mensch, der mir persönlich helfen konnte, wenn ich krank war. Sehr spät nahm ich zur Kenntnis, dass es diese Bezeichnung auch in anderen Bereichen gab, ja das es sogar Doktoren gibt, die keine Doktoren sind. Aktuelle Ereignisse bestätigen mich in meinem Verhalten, gegenüber dieser Welt immer eine gesunde Skepsis an den Tag gelegt zu haben.